Nachtschicht
„Das Leben hört nicht auf, komisch zu sein, wenn Menschen sterben.
Ebenso wenig, wie es aufhört, ernst zu sein, wenn man lacht.“
George Bernhard Shaw
Man liegt plötzlich wach in der Dunkelheit. Wahrscheinlich von einem
Geräusch aus dem Schlaf gerissen, das längst wieder verklungen ist.
Der eine fragt den anderen: „Alles in Ordnung?“
Der andere antwortet dem einen: „Alles in Ordnung.“
Eines der Rituale, mit denen wir uns sagen konnten, wie wir fühlten,
ohne dass wir es tatsächlich sagen mussten: Dass wir Heimweh hatten, uns die
Dunkelheit Unbehagen bereitete und wir wissen wollten, dass wir nicht alleine
im Zimmer waren. Wir sollten erwachsen sein, auf dem Weg in die Zukunft. Aber
wir hatten keine Vorstellung von „Zukunft“, denn unser kleines bisschen
Vergangenheit hatten wir mit Kindsein verbracht.
***
„Schon mal bei einer Organentnahme
dabei gewesen?“
Nina schüttelt langsam den Kopf
und sieht mich aus großen, braunen Kuhaugen an, wie sie es schon den ganzen Tag
getan hat, jedes Mal, wenn ich sie angesprochen habe.
„Man fährt den Kerl rein“ – ich
sage mit Absicht nicht „Patient“, denn das Wort kommt mir in diesem
Zusammenhang falsch vor – „noch an der Beatmungsmaschine. Er ist warm, sieht
aus wie die anderen, die in Narkose liegen. Lebendig. Aber eigentlich ist er
schon Gemüse. Wenn sie die Organe entnehmen, muss alles steril sein. Wie bei
jeder anderen OP. Die Organe müssen für die Spender so keimfrei wie möglich
sein.“
„Ah.“ Ein zögerliches Kopfnicken.
„Sie entnehmen Lunge, Herz,
eventuell den Darm... Der wird nur selten transplantiert, aber trotzdem...
Leber und die Nieren natürlich. Die Leber kann man teilen und im besten Fall
auf zwei oder drei Empfänger verteilen. Oh, und die Hornhaut. Und die Milz –
aber die braucht man nur, um das Immunsystem abzuchecken.“
„Damit der Empfänger auch wirklich
zum Spender passt und das Organ nicht abstößt?“ So einen langen Satz hat sie
den ganzen Tag noch nicht von sich gegeben.
„Genau.“
„Ich glaub, ich muss noch mal.“
Ihre Hände hängen zitternd an ihr herab, als sie den Pausenraum verlässt.
„Du kannst gut erklären.“ Thorben,
einer der OP-Pfleger, grinst und tätschelt mir die Schulter.
Ich bin hundsmiserabel als Lehrer
und jedes Mal genervt, wenn ich jemandem was beibringen soll. Aber Thorben hat
einen Narren an mir gefressen und deshalb lässt er zu allem, was ich tue, ein
Kompliment vom Stapel. Mir ist noch nie ein Mann begegnet, der so wenig Ahnung
von Frauen hat!
„Danke“, erwidere ich trocken und
stehe auf, um einer weiteren seiner Berührungen zuvor zu kommen. „Noch nen
Kaffee?“
„Nein, danke.“
Ich schenke mir eine Tasse ein und
lehne mich gegen den Tresen. Dr. Lauch und einer seiner Kollegen stehen draußen
auf dem Flur. Lauch erzählt etwas über einen Patienten, worüber beide dann
lachen.
„Woran denkst du gerade?“, fragt
Thorben.
„Daran, wie man sich aus
Liebeskummer umbringen kann“, erwidere ich und bin überrascht, wie mechanisch
ich dabei klinge.
„Oh.“ Thorben ist gutmütig genug,
um zu wissen, dass er jetzt betroffen wirken muss, aber nicht schlau genug, um
zu merken, dass er mich in Ruhe lassen soll, also fährt er fort: „Du hast doch
nicht etwa Liebeskummer?“
„Nein. Ich doch nicht!“ Darüber
lache ich auf, weil es tatsächlich eine vollkommen abwegige Vermutung ist – und
weil ich so das Thema wechseln kann.
„Na, Kinder?“ Emre betritt den
Raum mit einem breiten Grinsen, das bei mir ein unangenehmes Ziehen in der
Magengegend verursacht. „Alles klar?“
„Joa, wie’s eben so geht bei der
Nachtschicht, Dr. Amin... Noch bin ich fit. Bin aber auch eben erst gekommen.
Aber ich glaub’, Lola ist schon länger hier. Seit heute Morgen, oder? Mann,
echt hart und das als Student!“
Ja, ich bin ja so fleißig und zäh
und was weiß ich nicht alles! Außerdem weiß Emre, wie lange genau ich schon
Dienst habe, denn immerhin waren wir den ganzen Tag zusammen.
„Tja, an so was sieht man eben
echte Leidenschaft.“ Emre dreht den
Kopf zu mir und fährt sich dabei mit der Zungenspitze über die Oberlippe.
„Dann nehm’ ich mir mal ein
Beispiel“, gluckst Thorben, „und mach mich auch mit Leidenschaft an die Arbeit.“ Beim Hinausgehen zwinkert er mir zu
und ich zwinge mich zu einem kurzen Lächeln.
„Ich glaube, der Kleine steht auf
dich.“
„Ich befürchte es.“ Seufzend verdrehe ich die Augen und nehme einen
Schluck aus meinem Kaffee. „Vor drei Wochen wollte er mit mir Eis essen gehen. Wie alt ist der?
Zwölf?“
„Dreißig.“
Umso schlimmer, denke ich und
setze mich wieder, als Dr. Lauch in die Personalküche kommt.
Wenn ich ihn ansehe, verstehe ich
nicht, wie man sich über die grüne OP-Arbeitskleidung beklagen kann. Die
formlosen Kittel zum Beispiel umschmeicheln jeden Bierbauch so, dass man ihn
erst bei genauerem Hinsehen bemerkt – wie bei Lauch. Außerdem wird durch die
Stoffhaube versteckt, dass ihm beinahe alle Haare ausgefallen sind. Wenn er wie
jetzt in OP-Montur steckt, sieht er besser aus als in weißem Kittel und
geschmacklos kariertem Hemd.
„Mann, mein Kleiner bekommt gerade
Zähne! Lässt mich keine drei Stunden am Stück schlafen.“ Ein demonstratives
Gähnen unterstreicht seine Aussage und er streckt die Arme zur Decke, als er
sich räkelt.
„Wie alt is’ der kleine Franz denn
jetzt?“, fragt Emre.
„Fast eineinhalb.“
Ich kann mir nicht vorstellen,
dass ein Kleinkind Franz heißen kann. Das ist ein Name für einen
siebzigjährigen Großonkel.
„Meine Frau ist so von der
Zahnerei gestresst, dass sie fast fünf Kilo zugenommen hat“, erzählt er weiter.
„Zum Glück hab ich bald Urlaub. Mann, oh Mann! Wir haben vor, ein bisschen
zelten zu gehen. An den Gardasee. Mal sehen, wie das mit dem Kleinen klappt.“
„Klingt gut“, kommentiert Emre
lächelnd. Obwohl ich nie mit Emre darüber gesprochen habe, gehe ich jede Wette
ein, dass er nie freiwillig Campingurlaub machen würde. Er ist der Typ All-inclusive-Hotel
an der Riviera. Aber Lauch ist sein Oberarzt. Kontinuierliches
Honig-um-den-Bart-Schmieren ist hier eine selbstverständliche Höflichkeit wie
für andere Menschen „danke“ und „bitte“ zu sagen.
(Nein, ich habe nicht genug Geduld dafür, alles nach und nach zu posten. ;))
Viele liebe Grüße